Bei 40% aller Patienten mit einer Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) ist eine Spastik nachweisbar. Die Spastik der Extremitäten, des Rumpfes und der Zunge führt zu einer funktionellen Einschränkung der betroffenen Muskelgruppen. Neben den funktionellen Auswirkungen in der Mobilität wird die Tonussteigerung in den spastischen Muskelgruppen als belastend erlebt. Häufige zusätzliche Symptome der Spastik sind Schmerzen und Muskelkrämpfe. Die Behandlung der Spastik stellt eine zentrale Herausforderung der ALS-Behandlung dar. Nabiximols (Handelsname Sativex®) ist seit 2011 zur Behandlung spastischer Symptome bei Patienten mit Multipler Sklerose (MS) zugelassen. Dieses Arzneimittel ist eine Pflanzenextraktmischung aus den Blüten und Blättern der Hanfpflanze Cannabis sativa L., folium cum flore, die jeweils standardisierte Gehalte an Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD) enthält.
Auf Grundlage der Wirksamkeit und Verfügbarkeit von Nabiximols bei der MS wird das Medikament zunehmend auch zur Spastiktherapie bei Menschen mit ALS verwendet. In der ALS-Indikation erfolgt eine zulassungsüberschreitende Anwendung (off-label use). Trotz des off-label-Gebrauchs von Nabiximols bei der ALS seit dem Jahr 2011 liegen bisher keine strukturierten Daten über die Anwendung des Medikamentes vor.
Studie zu Nabiximols bei der ALS
Ambulanzpartner führte zwischen Juli und September 2017 eine Studie durch, die die Anwendung und die Patientenerfahrung von Menschen mit ALS analysierte, die eine Spastikbehandlung mit Nabiximols erhalten haben. An der Studie nahmen Patienten teil, die folgende Einschusskriterien aufwiesen: 1) Diagnose einer Amyotrophen Lateralsklerose (ALS; ICD-10 G12.2); 2) Vorliegen einer Spastik; 3) Behandlung mit Nabiximols; 4) Einwilligung in die Teilnahme an Ambulanzpartner.
ERGEBNISSE
Studienteilnehmer
Insgesamt wurden 68 Patienten mit einer ALS zu einer Teilnahme an der Umfrage eingeladen. 46 Datensätze konnten erhoben werden (Teilnahmequote von 68 %) Die hohe Teilnahmequote konnte durch den kombinierten Einsatz von telefonischer Befragung und Onlinebefragung erreicht werden. 27 Datensätze stammen aus dem telefonischen Interview und 19 aus der Onlinebefragung. In der untersuchten Gruppe von 44 Patienten konnte bei 32 Teilnehmern ein vollständiger Datensatz erhalten werden.
Demographische Daten
59,1 % der Befragten (n=26) waren Frauen, 40,9 % (n = 18) Männer. Zum Zeitpunkt der Befragung betrug das Durchschnittsalter der Befragten 57,3 Jahre (±15,3; median: 57.5). Die Mehrheit der Teilnehmer (56,8 %, n = 25) waren zwischen 41 und 70 Jahre alt. 25,0 % (n = 11) waren älter als 70 Jahre. Der jüngste Patient war zum Umfragezeitpunkt 27 Jahre, der älteste Patient 87 Jahre alt.
Anwendung von Nabiximols
Die Anwendung von Nabiximols in der untersuchten Patientengruppe ist differenziert. 78,1 % (n = 25) berichtet eine tägliche Anwendung, während 12,5 % (n = 4) das Medikament nicht täglich, aber mindestens einmal wöchentlich einnimmt. Weitere 9,4 % (n = 3) berichtet eine gelegentliche Anwendung (weniger als eine Anwendung pro Woche, aber wenigstens eine Einnahme pro Monat; Abb. 1).
Abb. 1: Anwendungshäufigkeit von Nabiximols. n=32
Im Mittel wurden 6,8 Sprühstöße pro Tag appliziert. 44 % der Befragten applizierten 1 bis 4 Sprühstöße pro Tag, während 22 % 5 bis 10 Sprühstöße anwenden. Weitere 19 % nahmen mehr als 10 Sprühstöße pro Tag ein (Abb. 2).
Abb. 2: Häufigkeitsverteilung in der Anwendung von Nabiximols. Maximale Anzahl der Sprühstöße pro Tag. n=32.
Weiterempfehlungswahrscheinlichkeit
Die Weiterempfehlungswahrscheinlichkeit, die durch den NPS (Net-Promotor-Score) ermittelt wurde, war differenziert. 31,7 % (n = 13) der Patienten sprach keine Weiterempfehlung aus, während weitere 31,7 % (n = 13) eine indifferente Haltung zeigten. Bei 36,6 % (n = 15) zeigte sich eine hohe Weiterempfehlung. Der NPS Score betrug +4,9 Punkte. Durch einen Wert > 0 lag eine positive Weiterempfehlung vor. Patienten mit mittel- bis hochgradiger Spastik (NRS ≥ 4) zeigten eine höhere Weiterempfehlungswahrscheinlichkeit von Nabiximols, als Patienten mit geringer Spastik (NRS < 4; NPS: +28,57 vs. -44,45; Abb. 3).
Abb. 3: Weiterempfehlungswahrscheinlichkeit für Nabiximols nach Grad der Spastik. Die Wahrscheinlichkeit zur Weiterempfehlung wurde mittels des Net-Promotor-Scores (0-10 Punkte) erfasst: unwahrscheinliche Weiterempfehlung (0-6 Punkte); indifferente Weiterempfehlung (7-8 Punkte); wahrscheinliche Weiterempfehlung (9-10 Punkte). Die Selbstbewertung der Spastik wurde mittels der Numerischen Bewertungsskala (NRS) erfasst: keine Spastik (0 Punkte); leichte Spastik (1-3 Punkte); mittelstarke Spastik (4-6 Punkte); starke Spastik (7-10 Punkte).
Behandlungszufriedenheit
Die Patientenzufriedenheit mit dem Medikament Nabiximols wurde durch Erhebung des Treatment Satisfaction Questionnaire for Medication (TSQM-9) erfasst. Die Auswertung der Scores erfolgte separat in den 9 adressierten Fragen, die wie folgt dargestellt werden.
TSQM-9, Frage 1 – Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mit der Eignung des Medikamentes: Die überwiegende Mehrheit der Befragten (81 %; n = 26) berichtet, mit der Eignung von Nabiximols zur Therapie der Spastik zufrieden zu sein. Nur zwei Patienten (6 %) sind unzufrieden (Abb. 4).
Abb. 4: Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mit der Eignung von Nabiximols zur Spastikbehandlung. Die Eignung von Nabiximols wurde anhand des TSQM-9, Frage 1 ermittelt: „Wie zufrieden oder unzufrieden sind Sie damit, wie gut das Medikament zur Vorbeugung oder Behandlung Ihrer Spastik geeignet ist?“; n = Anzahl der Patienten.
TSQM-9, Frage 2 – Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mit der Beschwerdelinderung: 72 % (n = 23) waren mit der Beschwerdelinderung durch Nabiximols zufrieden. Eine mittlere Gruppe (19 %, n = 6) war der Einschätzung gegenüber der Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mit der Beschwerdelinderung gegenüber indifferent. Ein geringerer Anteil der Kohorte war mit der Beschwerdelinderung unzufrieden (9 %, n = 3; Abb. 5).
Abb. 5: Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mit der Beschwerdelinderung durch Nabiximols. Die Beschwerdelinderung durch Nabiximols wurde anhand des TSQM-9, Frage 2 ermittelt: „Wie zufrieden oder unzufrieden sind Sie damit, wie das Medikament Ihre Beschwerden lindert?“; n = Anzahl der Patienten.
TSQM-9, Frage 3 – Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mit der Schnelligkeit der Wirkung: Die Schnelligkeit des Wirkungseintritts wurde insgesamt als zufriedenstellend eingeschätzt (72 %, n = 23). Der Anteil der indifferenten und unzufriedenen Einschätzungen war analog zur Beschwerdelinderung (Abb. 6).
Abb. 6: Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mit der Schnelligkeit der Wirkung von Nabiximols. Die Schnelligkeit der Wirkung von Nabiximols wurde anhand des TSQM-9, Frage 3 ermittelt: „Wie zufrieden oder unzufrieden sind Sie damit, wie lange es dauert, bis das Medikament anfängt zu wirken?“; n = Anzahl der Patienten.
TSQM-9, Frage 4 – Einfachheit oder Schwierigkeit der Einnahme: Bei mehr als der Hälfte der befragten ALS-Patienten wurde die Einnahme von Nabiximols als einfach bis sehr einfach beschrieben (63 %, n = 20). Allerdings war auffällig, dass ein beachtlicher Anteil in der Kohorte (31 %, n = 10) die Einnahme des Medikamentes als schwierig oder sehr schwierig betrachtet (Abb. 7).
Abb. 7: Einfachheit oder Schwierigkeit der Einnahme von Nabiximols. Die Einnahme wurde durch den TSQM-9, Frage 4 ermittelt: „Wie einfach oder schwierig ist es, das Medikament in seiner derzeitigen Form zu nehmen?“. n = Anzahl der Patienten.
TSQM-9, Frage 5 – Einfachheit oder Schwierigkeit in der Planung der Einnahmezeit: Der überwiegende Teil der befragten ALS-Patienten beschrieb die Planung der Einnahmezeit von Nabiximols als einfach bis sehr einfach (91 %, n = 29). Nur ein kleiner Anteil in der Kohorte (6 %, n = 2) betrachtete die Planung der Einnahmezeit des Medikamentes als schwierig oder sehr schwierig (Abb. 8).
Abb. 8: Einfachheit oder Schwierigkeit in der Planung der Einnahmezeit von Nabiximols. Die Planung der Einnahmezeit von Nabiximols wurde anhand des TSQM-9, Frage 5 ermittelt: „Wie einfach oder schwierig ist es, zu planen, wann Sie das Medikament jeweils nehmen?“; n = Anzahl der Patienten.
TSQM-9, Frage 6 – Einfachheit oder Schwierigkeit der korrekten Einnahme: Die Mehrheit der ALS-Patienten beschrieb die korrekte Einnahme von Nabiximols entsprechend der ärztlichen Verschreibung als einfach bis sehr einfach (78 %, n = 20). Ein geringer Anteil in der Kohorte (16 %, n = 5) sah die korrekte Einnahme des Medikamentes als schwierig oder sehr schwierig (Abb. 9).
Abb. 9: Einfachheit oder Schwierigkeit der korrekten Einnahme von Nabiximols. Die korrekte Einnahme von Nabiximols entsprechend der Verschreibung wurde anhand des TSQM-9, Frage 6 ermittelt: „Wie einfach und bequem ist es, das Medikament wie verschrieben einzunehmen?“; n = Anzahl der Patienten.
TSQM-9, Frage 7 – Überzeugung oder fehlende Überzeugung von der Medikamenteneinnahme: 69 % (n = 22) waren davon überzeugt, dass es „gut für sie ist“, das Medikament einzunehmen. 16 % (n = 5) der Patienten nahmen Nabiximols ein, obwohl sie von der Substanz nicht überzeugt sind (Abb. 10).
Abb. 10: Überzeugung oder fehlende Überzeugung von der Einnahme des Medikamentes Nabiximols. Die Überzeugung von der Einnahme von Nabiximols wurde anhand des TSQM-9, Frage 7 ermittelt: „Wie überzeugt sind Sie insgesamt davon, dass es gut für Sie ist, dieses Medikament zu nehmen?“; n = Anzahl der Patienten.
TSQM-9, Frage 8 – Sicherheit oder Unsicherheit über das Überwiegen guter oder schlechter Seiten des Medikamentes: Ein großer Teil der Befragten (65 %; n = 21) war sich sicher, dass die Vorteile der Einnahme gegenüber den Nachteilen überwiegen. 22 % (n = 7) nahmen das Medikament ein, obwohl sie nicht sicher sind, dass die positiven die schlechten Seiten des Medikamentes überwiegen. Eine weitere Gruppe (12,5 %, n = 4) war ambivalent (Abb. 11).
Abb. 11: Sicherheit oder Unsicherheit über das Überwiegen guter oder schlechter Seiten des Medikamentes Nabiximols. Das Überwiegen der guten oder schlechten Seiten von Nabiximols wurde anhand des TSQM-9, Frage 8 ermittelt: „Wie sicher sind Sie sich, dass die guten Seiten Ihres Medikaments gegenüber den schlechten Seiten überwiegen?“; n = Anzahl der Patienten.
TSQM-9, Frage 9 – Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mit dem Medikament insgesamt. Die globale Zufriedenheit mit dem Medikament war sehr hoch: 84,3 % (n = 27) ist mit dem Medikament zufrieden bis sehr zufrieden. Der Anteil der ambivalenten (6,3 %; n = 2) oder unzufriedenen (9,4 %, n = 3) Patienten war gering (Abb. 12).
Abb. 12: Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mit dem Medikament Nabiximols insgesamt. Diese Einschätzung wurde anhand des TSQM-9, Frage 9 ermittelt: „Wie zufrieden oder unzufrieden sind Sie insgesamt gesehen mit diesem Medikament?“; n = Anzahl der Patienten.
Vergleichende Analyse des TSMQ-9-Summenscores
Die differenzierte Auswertung der Summencores für die Fragen 1 bis 9 des TSQM-9 zeigte insgesamt hohe Zustimmungswerte. Die höchste Zustimmung ergab sich für die Einfachheit in der Planung der Medikamenteneinnahme (Frage 5) und die Zufriedenheit mit dem Medikament insgesamt (Frage 9). Die größten Einschränkungen ergaben sich bei der Handhabung des Medikamentes (Frage 4) sowie bei der Schnelligkeit des Wirkungseintritts (Frage 3).
ZUSAMMENFASSUNG
Der vorliegende Ambulanzpartner Studie untersucht die Versorgungsrealität in der Spastikbehandlung mit Nabiximols (Handelsname Sativex) bei der ALS. Im Mittelpunkt der Studie stand die Erfassung der Patientenerfahrung mit der Nabiximols-Behandlung.
Bei der Anwendung von Nabiximols bei der ALS lässt sich ein differenzierter Gebrauch des Medikamentes feststellen. 36 % der Patienten nutzten das Medikament täglich. Etwa 20 % der untersuchten ALS-Patienten berichten mehr als 10 Anwendungen pro Tag. Diese Daten lassen darauf schließen, dass zwei unterschiedliche Anwendungsszenarien bei der ALS bestehen: Patienten mit einer hochfrequenten Einnahme zur intensiven Symptomkontrolle sowie Patienten mit reduzierter Einnahme, die als Bedarfsmedikation zu betrachten ist. Auch in der weiteren Analyse zeigte sich, dass Patienten mit einer schweren Spastik, im Vergleich zu Patienten mit geringer ausgeprägter Spastik, eine höhere Anwendungsfrequenz (7,3 vs. 3,5 Sprühstöße pro Tag) zeigen. Um die Signifikanz dieses Unterschiedes zu testen, wären höhere Teilnehmerzahlen erforderlich.
Die Patientenerfahrung wurde mit dem NPS und dem TSQM-9 erfasst. Bei beiden Scores wird die subjektive Zufriedenheit mit der Intervention mit verschiedenen Instrumenten abgebildet. Der NPS-Scores zeigte drei weitgehend ausgeglichene Gruppierungen innerhalb der untersuchten Gesamtgruppe: Patienten mit einer starken Weiterempfehlung von Nabiximols, Patienten mit einer fehlenden Weiterempfehlungswahrscheinlichkeit und eine indifferente Patientengruppe. Insgesamt zeigte sich ein positiver Summenscore, der eine moderate Weiterempfehlungsrate zeigt. Die erhobenen NPS-Scores für Nabiximols sind als Ausgangsbasis für weitere Studien zu betrachten.
Zur Erfassung der Patientenerfahrung wurde der TSQM-9 eingesetzt. Beim TSQM-9 ist vorteilhaft, dass dieser Score explizit zu einer Selbstbewertung von Medikamenten entwickelt und etabliert wurde. Allerdings entsteht auch hier, analog zum NPS, die Limitation, dass bisher keine Vergleichsdaten im TSQM-9 Score zu anderen ALS-Medikamenten vorhanden sind. Die Auswertung des TSQM-9 zeigte insgesamt eine gute Zufriedenheit der Patienten mit Nabiximols. Bemerkenswert war die hohe globale Zufriedenheit (TSQM-9, Frage 9) in der 84 % der Teilnehmer ihre Zufriedenheit mit dem Medikament äußern. Diese positive Einschätzung kontrastiert mit den moderateren Werten im NPS-Score, der lediglich bei 36,7 % (n = 15) eine hohe Weiterempfehlungswahrscheinlichkeit zeigte. Dabei ist zu diskutieren, dass die Weiterempfehlung einer Therapie eines Patienten gegenüber anderen Patienten (NPS) noch kritischer und stringenter als die eigene Zufriedenheit (TSQM-9) gehandhabt wird.
Trotz der differenzierten Anwendung und der insgesamt positiven Erfahrung von ALS-Patienten mit Nabiximols besteht ein hoher Forschungsbedarf zu dieser Medikation. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie liefern bereits erste Hinweise, dass Nabiximols eine wichtige Ergänzung der symptomatischen und palliativen Pharmakotherapie bei der ALS darstellt.
**Für Fragen zu dieser Studie steht Ihnen zur Verfügung:
**Susanne Spittel
_Projektmanagement Forschung, Entwicklung & Datenanalyse
Ambulanzpartner Versorgungsnetzwerk
_susanne.spittel@ap-soziotech.de